Wenn ein Gericht vor Gericht steht. Oder: Auch Gerichte können verklagt werden.
Kammergericht, Urteil vom 29. Januar 2016 – 7 EK 12/15 -: In einem durch Rechtsanwalt Säverin erstrittenen Urteil hat das Kammergericht heute entschieden, dass der Klägerin eines vor dem Amtsgericht Mitte in Berlin geführten Streits über Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall eine Entschädigung von 550,00 € zu bezahlen ist, weil das Amtsgericht das Verfahren unzumutbar lange geführt hatte:
1. Ein erstinstanzliches Klageverfahren, das eine relativ einfache Verkehrssache betrifft, ist dann als unangemessen lang i. S. d. § 198 GVG anzusehen, wenn es von der Klageeinreichung bis zum Urteil mehr als 12 Monate dauert.
2. Für die Frage der angemessenen Verfahrensdauer kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat. Deshalb kann sich der beklagte Staat zur Rechtfertigung der langen Dauer eines Verfahrens auch nicht auf chronische Überlastung eines Gerichts oder eine angespannte Personalsituation berufen.
Das vollständige Urteil finden Sie hier. Da sich darin der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht findet, nicht findet, wird dieser hier kurz dargestellt: Diese Entscheidung des Kammergerichts befasst sich mit einem Klageverfahren, das vor einer Abteilung des Amtsgerichts Mitte geführt worden war, die auf Ansprüche aus Verkehrsunfällen spezialisiert ist. In jenem Verfahren ging es um einen Anspruch auf Schmerzensgeld aus einem Unfall zwischen zwei Fahrradfahrern. Bei diesem war die Klägerin mit ihrem Fahrrad auf dem Gehweg in Richtung einer Kreuzung gefahren, an der sie bei „Grün“ über die Fußgängerfurt fuhr. Hierbei kam es zu einer Kollision mit einem Radfahrer, der, auf der Straße fahrend, die Fußgängerfurt kreuzte, kurz nachdem er bei „Rot“ in die Kreuzung eingefahren war.
Die Ampelschaltung war unter den Parteien streitig, wurde aber durch eine Zeugin im Sinne der Klägerin bestätigt. Die Klägerin hatte für ihre Klage vorab Prozesskostenhilfe beantragt, die ihr vom Amtsgericht verweigert, auf ihre Beschwerde vom Landgericht jedoch zugesprochen worden ist, wobei das Landgericht von einer Haftung von 2/3 zu 1/3 zu Gunsten der Klägerin ausging.
Das gesamte Prozesskostenhilfeverfahren dauerte rund 7,5 Monate. Nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhob die Klägerin – unter Berücksichtigung der vom Landgericht angenommenen Haftungsquote – am 11. November 2012 Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 3.000,00 €. Die Klage wurde bei bei derselben Abteilung anhängig, die auch schon im PKH-Verfahren tätig war. Diese ordnete am 17. Januar 2013 (also erst 2 Monate nach Klageeinreichung) das schriftliche Vorverfahren an und bestimmte Termin zur mündlichen Verhandlung für den 29. April 2014 (also 15,5 Monate später). Diese späte Terminierung, die dem damals üblichen Terminstand dieser und anderer Verkehrsabteilungen am Amtsgericht Mitte entsprach (und übrigens noch immer entspricht), veranlasste die Klägerin, am 21. Januar 2013 Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG zu erheben. Zu einer Vorverlegung des Termins kam es gleichwohl nicht. Im schriftlichen Verfahren tauschten die Parteien jeweils zwei Schriftsätze von nicht mehr als drei Seiten aus.
Im Termin am 29. April 2014 hat das Gericht sodann, ohne Vernehmung der Zeugin, die Klage mit derselben Begründung abgewiesen, mit der es der Klägerin, 20 Monate zuvor, bereits im PKH-Verfahren Prozesskostenhilfe versagt hatte. Bis zur abschließenden Zustellung der Klage vergingen weitere knapp 3 Monate. Das von der Klägerin daraufhin betriebene Berufungsverfahren, das am 28. April 2015 mit einem Vergleich endete, dauerte, einschließlich vorangegangenem PKH-Verfahren und Vernehmung der Zeugin, lediglich 8 Monate.
Mit ihrer am 22. September 2015 zum Kammergericht erhobenen Klage beanspruchte die Klägerin eine Entschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG in Höhe von 1.200,00 EUR aufgrund überlanger Dauer des vor dem Amtsgericht geführten Verfahrens. Das Kammergericht hat eine unangemessen lange Verfahrensdauer von 5,5 Monaten angenommen und der Klägerin deshalb eine Entschädigung von 550,00 EUR zuerkannt.
Nachtrag vom 29. Oktober 2016: In einer weiteren von Rechtsanwalt Klaus Säverin erstrittenen Entscheidung zu einem ganz ähnlichen Fall hat das Kammergericht erneut über eine Entschädigung für ein überlanges Gerichtsverfahren vor dem Amtsgericht Berlin Mitte entschieden.